Die Drohung ist stärker als die Ausführung
Im Schachspiel gibt es den Lehrsatz, dass die Drohung stärker als die Ausführung ist. Dabei dreht es sich darum, dass der Gegenspieler sich um diese Drohung kümmern muss, denn sonst gerät er eventuell in Nachteil und wird Material verlieren oder vielleicht in eine verlorene Stellung geraten, in der das Einfahren des Sieges nur noch eine Sache der Technik ist. Während eine Seite die Drohung aufstellt, muss die andere Seite sie zunächst erkennen, dann beurteilen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und schließlich in irgendeiner Form handeln. Das Ziel des Spielers, der die Drohung aufstellt, ist dabei vor allem, dass sein Gegenüber sich nur noch um die möglichen Folgen der Drohung und deren Abwehr kümmert, anstelle selbst zu agieren und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.
Der für das Schachspiel gültige Lehrsatz lässt sich auch auf die aktuelle Situation rund um den Ukraine-Krieg übertragen. Bereits zu Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 hat Putin mit härtesten Konsequenzen gedroht, sollten gegen Russland aufgrund seines Einmarsches in die Ukraine Aggressionen verübt werden. Nur drei Tage später erklärte er, dass er, aufgrund der aggressiven Äußerungen, die Spitzenpolitiker der NATO-Staaten gegen Russland zuließen, die Streitkräfte der Abschreckung in ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft habe versetzen lassen. Mit diesen beiden Äußerungen baute er die Drohung eines Atomschlages auf.
Nachdem nun diese Drohung aufgebaut wurde, ist es wichtig, dass der Blick auf die Gesamtsituation nicht dadurch verstellt wird. Das Ziel Putins mit dieser Drohung ist klar. Er will keinerlei Einmischung in seinen Krieg gegen die Ukraine, denn ihm ist völlig klar, dass seinem Angriff kein Erfolg beschieden ist, wenn die Ukraine massive Unterstützung erhält, also die NATO z.B. als Kriegspartei in den Ukraine-Krieg eintreten würde. Er schürt daher die Angst vor einem Atomkrieg, um die Regierungen der Länder der liberalen Welt zur Untätigkeit zu zwingen. Damit ist er allerdings schon mehr oder weniger „all in“ gegangen, denn ihm bleiben jetzt eigentlich keine Möglichkeiten mehr, weitere, vielleicht noch gefährlichere Drohungen aufzubauen. Nun ist es an uns, diese Drohung, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und ihre Auswirkung auf unsere Handlungsmöglichkeiten zu beurteilen.
Zunächst einmal ist es wichtig, die Drohung und wie sie wirkt bzw. wirken soll zu verstehen. Die Drohung, dass eine Einmischung in den Angriffskrieg auf Seiten der Ukraine „Konsequenzen, wie sie die Geschichte noch nie erlebt hat“ nach sich ziehen würden, lässt wenig Interpretationsspielraum. Das schlimmste, was die Welt bisher erlebt hat, waren die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Wenn es also das übertreffen sollte, heißt das, dass Moskau mit einer schlimmeren Zerstörung, als man zum Ende des Zweiten Weltkrieges in diesen Städten erlebt hat, gegen das sich einmischende Land antwortet. Im Klartext, Moskau droht mit einem atomaren Erstschlag. Neben der Androhung der direkten Folgen einer Einmischung ist ihr Ziel in der Bevölkerung der westlichen Länder Angst zu schüren. Diese Angst soll die politisch Handelnden dort davon abhalten, auch nur irgendetwas zu unternehmen, dass der Ukraine hilft. Dabei soll auch der unklare Verlauf der „roten Linie“, also der Grenze dessen, ab wann Putin eine Unterstützung der Ukraine als Einmischung betrachtet, die Angst fördern, bzw. die Bevölkerung der Länder zu massiven Protesten veranlassen, sollten Unterstützungsmaßnahmen von den Regierungen ausgedehnt werden wollen.
Was bedeutet es aber, wenn wir davon ausgehen, dass diese Drohung ernst zu nehmen ist, also, dass Putin bereit ist, einen atomaren Erstschlag auszuführen und wir deshalb keinerlei Unterstützung der Ukraine zukommen lassen? Putin kann seinen Krieg gegen die Ukraine erfolgreich führen und die Ukraine im schlimmsten Fall in Russland eingliedern, im besten Fall, wird eine Vasallenregierung in Kiew installiert, wobei die Regionen Krim, Donezk und Luhansk auf jeden Fall von der Ukraine abgetrennt werden. Für die Ukrainer bedeutet dies, dass jegliches Eintreten für liberale Werte, Demokratie, Selbstbestimmung unterdrückt wird, es, wie wir es bereits aus Belarus kennen, zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen sowie Deportationen und Umerziehungen kommen wird. Für die westlichen Länder sind die Folgen, dass sich die Grenze zwischen Russland (incl. Belarus) deutlich um die Grenze zur Ukraine und sich die mögliche Konfrontationslinie somit deutlich erweitert. Zudem hat Russland dann einen unmittelbaren Landzugang zu Moldawien, einem Land in dem es ähnlich wie beim Donezk und Luhansk die Errichtung einer „Volksrepublik Transnistrien“ unterstützt hat. Es ist also davon auszugehen, dass Putin auch hier die Souveränität eines Landes in Frage stellen und mit seinen Truppen einmarschieren wird. Entsprechende Gedanken lassen sich in Putins Aussagen zu einer „neurussischen“ Nation bzw. in den Aussagen von Medwedew (Eurasisches Reich von Lissabon bis ‚Wladiwostock“) oder auch von General Minnekajew wiederfinden.
Ganz offensichtlich kann es für uns keine Option sein, uns passiv zu verhalten und die Ukraine und ihre Bevölkerung ihrem Schicksal zu überlassen. Wir müssen daher einschätzen, wo denn der bisher nicht genannte Verlauf der „roten Linie“ ist und wie weit wir uns an diese Linie herantrauen können. Dazu müssen zunächst die anderen Handlungsoptionen betrachtet und für jede eine Einschätzung hinsichtlich der russischen Reaktion getroffen werden. Dies ist der besonders schwierige Teil, denn abgesehen vom unklaren Verlauf der roten Linie ist zudem auch eine Einschätzung der handelnden russischen Personen und der ihnen innewohnenden Motivation, Rationalität bzw. Irrationalität, Risikobereitschaft sowie Selbstvernichtungsbereitschaft zu treffen.
Ebenso wie ein komplett passives Verhalten ist aber auch das aktive Eingreifen im Sinne von Teilnahme am Krieg als Kriegspartei auf Seiten der Ukraine keine Option. Zwar wäre dies völkerrechtlich zulässig, denn es wäre nach Artikel 51 der VN-Charta im Sinne der kollektiven Selbstverteidigung bzw. Nothilfe, allerdings richtet sich genau dagegen die Drohung Putins, so dass von ihrer Umsetzung auszugehen ist. Damit würde der regionale Krieg ausgeweitet werden und zu einem, aller Wahrscheinlichkeit nach, nuklear geführten 3. Weltkrieg werden, auch wenn die Rolle des Aggressors weiterhin klar auf Seiten Putins liegen würde. Ein solches Szenario gilt es soweit es geht zu vermeiden, ohne jedoch der russischen Aggression dadurch freie Hand in der Umsetzung ihrer Ziele zu geben.
Es zeigt sich also, dass der Lehrsatz aus dem Schachspiel sich auch hier ganz deutlich auswirkt. Die Drohung schränkt unsere Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der Ukraine ein und verhindert, dass der Aggressor im Rahmen einer kollektiven Selbstverteidigung zurückgewiesen wird. Zugleich ist aber auch klar, dass eine Umsetzung der Drohung der gesamten Welt wieder die Möglichkeit des uneingeschränkten Agierens gibt und entsprechende Reaktionen nach sich ziehen wird. Vor diesen Reaktionen und dem dann folgenden Inferno hat selbst die russische Seite Angst, denn dann gibt es kein Morgen mehr. Man könnte nun zum Schluss kommen, dass es sich deswegen um keine echte Drohung handelt und man sie ignorieren könne. Das wäre allerdings ein fataler Irrtum, denn es bleibt immer ein gewisses Restrisiko, dass das Putin Regime komplett irrational agieren wird. Diese mögliche Irrationalität sorgt dafür, dass wir die Drohung nicht beiseite fegen dürfen.
Die Drohung ist daher eindeutig stärker als ihre Ausführung.