Die verantwortungslose Freiheit

04/01/2022 Aus Von Jan Kirchdörfer
 

Freiheit ist eines unserer wichtigsten Güter. Deshalb haben wir uns in unserer Gesellschaft auch eine freiheitliche demokratische Grundordnung gegeben, die sich am Anfang unseres Grundgesetzes wiederfindet. Die darin verbrieften vielfältigen Rechte stehen jedem unserer Gesellschaft zu, solange sie für einen einzelnen nicht eingeschränkt wurden, weil er sich durch Handlungen gegen die gemeinschaftlichen Regeln der Gesellschaft vergangen hat und von dieser dafür zu Rechenschaft gezogen wurde. Wie wir sehen, gilt Freiheit also nicht unbeschränkt, denn eine Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn sie sich vorbehält die vielfältige Freiheit des einzelnen einzuschränken, um die Freiheit aller zu schützen. Dies findet sich so auch in den Formulierungen wieder. So ist der Schutz der Grundrechte genauso Aufgabe des Staates wie die Regelung der individuellen Grundrechte zueinander. Dabei gilt natürlich, dass die individuellen Freiheitsrechte nur in dem Umfang durch Regelungen eingeschränkt werden dürfen, wie es zum Schutz genau dieser erforderlich ist. Das heißt, die Ausübung der individuellen Freiheit des einen findet ihre Grenze dort, wo sie die Ausübung der individuellen Freiheit des anderen einschränkt.

Nun ist es nicht immer leicht zu erkennen, und somit auch nicht immer durch Gesetze zu regeln, wann die Ausübung der individuellen Freiheit andere in genau dieser einschränken. Freiheit des einzelnen bedeutet also auch immer Verantwortung für die Gesellschaft. Verantwortung dafür, dass jeder in der Gesellschaft in der Lage ist, seine individuelle Freiheit zu haben. Verantwortung dafür, dass diese Freiheit durch die Gesellschaft geschützt wird und seinen Teil dazu beizutragen, in dem er auf die grenzenlose Ausübung seiner Freiheit verzichtet, sich also einschränkt. Die Ausübung der individuellen Freiheit erfordert daher zugleich die Selbstbeschränkung ihrer Ausübung aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber der individuellen Freiheit auch über die gesetzlichen Regelungen hinaus.

Aktuell erleben wir in unserer Gesellschaft unter anderem aufgrund der Pandemie, aber nicht nur aufgrund dieser, eine Auseinandersetzung darüber, ob und in welchem Umfang die individuelle Freiheit zugunsten der kollektiven Freiheit eingeschränkt wird bzw. werden muss, und ob dies nicht deutlich zu weit geht. Dies, als Diskussion, ist notwendig, denn nur dadurch ist eine Reflexion möglich, wo die Grenzen für den einzelnen in der Ausübung seiner Freiheit sind und wo die Grenzen der Gesellschaft in der Einschränkung dieser Freiheit liegen. Eine solche Diskussion ist nicht einfach, haben doch alle Seiten ihre berechtigten Anliegen. Doch leider erscheint es gerade so, dass sich die Diskutanten in ihren Positionen eingegraben haben, als wären sie ein Schützengraben und man befinde sich in einem „Stellungskrieg“. Zugleich erfolgt ein „Hochrüsten“ durch Information, Desinformation, Vorwürfen, Regelungen, Drohszenarien bis hin zur persönlichen Bedrohung und sogar Totschlag und Mord. Wissenschaft befindet sich im Widerstreit mit Esoterik, Misstrauen mit Vertrauen, Staatstreue mit Staatsferne, solidarische mit individualistischen Elementen. Dem Gefühl des mangelnden Respekts vor der Freiheit des anderen steht die Empfindung einer Bevormundung, eines moralisierenden Zeigefingers oder eines wie auch immer gemeinten, aber abzulehnenden, Paternalismus gegenüber.

Dieser Widerstreit der Freiheitspositionen erweckt den Eindruck, als sei auf beiden Seiten die Verantwortung für die jeweils andere Seite verloren gegangen. Als haben wir uns zu einer Gesellschaft entwickelt, in der weder eine Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung vorhanden ist, indem man sich selbst in seiner Freiheit einschränkt, noch dass die Gesellschaft den Schutz der individuellen Freiheit vor weitgehender Beschränkung ernst nimmt. Dabei bedingen sich beide Freiheiten gegenseitig. Ohne Schutz durch die Gesellschaft gibt es keine Freiheit des Einzelnen und ohne Einschränkung der individuellen Freiheit gibt es keine, den Schutz dieser Freiheit garantierende, Gesellschaft. Freiheit hat also – wie eine Medaille – zwei Seiten, die eine Einheit bilden und die unauflösbar miteinander verbunden sind. Da beide Freiheitspositionen gleicher Teil des übergeordneten allgemeinen Freiheitsbegriffs sind, sich gegenseitig bedingen, gibt und kann es keinen Führungsanspruch einer der beiden Betrachtungsweisen geben. Gibt es keinen Führungsanspruch so muss die Vernunft, die Rationalität weiterhelfen, wie der Ausgleich zwischen beiden Positionen hergestellt wird und wer in der Verantwortung steht. Dies verlangt, dass man die Fakten anerkennt, ohne zu dramatisieren oder zu bagatellisieren.

Gerade das macht den Ausgleich in der aktuellen Diskussion rund um die Pandemie so schwierig, denn die vernünftige Betrachtung der Fakten wird durch ein großes Misstrauen in eben diese erschwert, wenn nicht sogar verhindert. „Alternative Fakten“ werden angeführt und Mythen werden erfunden, nur um die wirklichen Fakten zu bezweifeln und zugleich eine Erklärung zu liefern, warum man sie bezweifelt. Damit jedoch wird man seiner Verantwortung für die Freiheit nicht gerecht, sondern versucht seiner Sicht auf die Dinge Vorrang vor der Sicht anderer einzuräumen. Man zerstört also die Verantwortung füreinander, in dem man entweder lügt oder den anderen der Lüge bezichtigt. Genauso wird aber auch die Verantwortung zerstört, wenn aus der Beurteilung der Fakten Schlüsse gezogen werden, aus denen dann abgeleitet wird, dass Freiheitsrechte weit über notwendige Maß eingeschränkt werden sollen.

Abseits von der aktuellen Pandemiesituation lässt sich dabei feststellen, dass es vernünftig ist, von sich aus seine Freiheitsrechte einzuschränken, um weder für sich noch für andere eine Gefahr darzustellen. Konsens der Gesellschaft ist, dass nur durch Nachweis (im Sinne einer Prüfung) und unter Einhaltung von bestimmten Sicherheitsauflagen, das Individuum bestimmte Handlungen durchführen darf, von denen für andere Individuen Gefahren ausgehen. Das Führen eines Kraftfahrzeuges oder der Waffenbesitz, Umgang mit Gefahrstoffen aber auch der gewerbsmäßige Personentransport sind Beispiele, bei denen vermutlich jeder zustimmen wird, dass hier nicht das Individuum frei entscheiden sollte, sondern sich die Entscheidung an gesellschaftlich akzeptierten Normen und Vorbedingungen zu knüpfen hat. Denn durch die Entscheidung solche Handlungen auszuführen, gehe man eine Verantwortung gegenüber den anderen ein, dass man keine „über ein normales Maß an Risiko“ hinausgehende Gefahr für andere darstellt.

Und genauso sollte es sich auch in einer Pandemiesituation verhalten. Ein jeder sollte sich seiner Verantwortung gegenüber anderen bewusstwerden und von sich aus seine Freiheitsrechte einschränken bzw. sich an die gesellschaftlich auferlegten Regeln halten. Wer aber meint, sich aufgrund seiner individuellen Freiheitsrechte über die gesellschaftlichen Regeln, die von der Mehrheit (bzw. der Repräsentanten dieser) aufgestellt bzw. empfohlen wurden, hinwegsetzen zu können, gleichzeitig aber auch keine Bedingungen eingehen möchte, sollte sich klar darüber sein, dass er dabei nicht nur sich, sondern auch andere einem Risiko aussetzt, das über das normale Maß hinausgeht.

Ein solches Verhalten ist das was ich unter einer verantwortungslosen Freiheit verstehe. Etwas, dass sich keine Gesellschaft leisten kann.