Raus aus der Angst

07/02/2022 Aus Von Jan Kirchdörfer

Vorab will ich eine Bemerkung loswerden. Corona ist nicht harmlos und das Beste, was man aus meiner Sicht machen kann, ist sich impfen zu lassen. Ich will hier aber weder über die Impfung noch über eine Impfpflicht schreiben, sondern über ein Leben mit dem Virus in der Zukunft.

Zunächst aber ein kurzer Rückblick. Als wir vor etwa zwei Jahren mit diesem Virus konfrontiert wurden, hatten wir ihm medizinisch nichts entgegenzusetzen, um uns zu schützen bzw. eine Erkrankung an dem Virus zielgerichtet zu behandeln. Schwere Verläufe waren die Folge, genau wie die drohende Überlastung der Intensivkapazitäten. Ob letzteres ein hausgemachtes Problem war bzw. ist, steht auf einem anderen Blatt und soll hier auch kein Thema sein. Es folgten die A-H-A-Regeln, Lockdown I, Corona-Warn-App, Ergänzung der Regeln um die Buchstaben L (für Lüften) und C (für die Corona-Warn-App), der längste Lockdown unserer Geschichte und schließlich gab es vor gut vierzehn Monaten die Impfstoffe.

Seitdem schauen wir auf die Impfquote, die inzidenz-Zahlen und hoffen, dass wir die kritische Grenze über- (bei der Impfquote) bzw. unterschreiten (bei der Sieben-Tages-Inzidenz). Wir regen uns über zu harte oder zu weiche Corona-Schutz-Verordnungen auf und sind geschockt, dass der Virus unsere Anstrengungen einfach konterkariert, in dem er mutiert. Und genau jetzt sitzen wir angsterfüllt wie das Kaninchen vor der Schlange und starren auf Inzidenzen, die sich in unbekannte Höhen entwickeln.

Das Virus werden wir nicht mehr los. Es ist da und wird bleiben, genau wie wir es von anderen Viren kennen. Wie wir es bereits in den letzten zwei Sommern und Wintern erlebt haben, wird es Zeiten geben, in denen die Menschen weniger gefährdet für eine Ansteckung sind und Zeiten, in denen das Ansteckungsrisiko erhöht ist. Vermutlich werden wir eine jährliche COVID-Schutzimpfung, zumindest für die besonders vulnerablen Gruppen benötigen, wie wir die jährliche Grippeschutzimpfung benötigen. Der Kreis der Personen, für die diese Schutzimpfung dann empfohlen, eventuell sogar beruflich eingefordert werden muss, wird gegebenenfalls etwas größer sein müssen als bei anderen Schutzimpfungen. Auf all dies deuten die aktuelle Ausbreitungsgeschwindigkeit der Omikron-Variante, die gleichzeitig aber stabil bleibenden bzw. sogar sinkenden Hospitalisierungsraten und Auslastung der Intensivkapazitäten und die Aussagen der Corona-Experten hinsichtlich einer „Durchseuchung“ der Bevölkerung hin.

Wenn das aber so ist, dass wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben, genau wie wir mit anderen Virenerkrankungen leben gelernt haben, sollten wir dann nicht so schnell wie möglich damit anfangen? Mir geht es nicht darum, dass wir jetzt einfach alle Corona-Schutz-Maßnahmen von heute auf morgen fallen lassen, sondern dass wir jetzt die ersten Schritte gehen, die uns zum Sommer hin ein Leben wie vor dem Virus wieder ermöglichen. Die Frage ist vielmehr, was ist aktuell möglich, um zum einen unser Gesundheitssystem, so wie es ist, weiterhin vor einer Überlastung zu schützen, und zum anderen, denjenigen, die derzeit angsterfüllt sind, genau diese Angst zu nehmen. Und dabei geht es mir nicht um diejenigen, die nach wie vor ungeimpft und ungeschützt durch die Gegend rennen, denn diese scheinen ja keinerlei Angst vor dem Virus und den Folgen einer Erkrankung zu kennen.

Das Thema hat also zwei Aspekte. Der Schutz unseres Gesundheitssystems vor Überlastung und somit die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung abseits der Viruserkrankung auf der einen Seite, sowie die Herabsetzung der durch Angst aufgebauten Schwelle zu einem Übergang zurück in ein „normales“ Leben. Beide Aspekte und eventuell aus meiner Sicht notwendige Maßnahmen will ich hier betrachten, um die notwendigen Schritte, die wir gehen müssen, aufzuzeigen.

Das Gesundheitssystem zu schützen ist in erster Linie Aufgabe der Politik. Aber was heißt in diesem Zusammenhang überhaupt Schutz? Häufig stelle ich fest, dass in meinem näheren Umfeld unter Schutz des Gesundheitssystems die Minimierung des Anfalls von Arbeit, in diesem Fall an CoViD-Erkrankungen verstanden wird. Dies ist insoweit richtig, da wir uns weder die Folgen dessen, was zu viele gleichzeitigen Erkrankungen bedeuteten würden (Stichwort Triage), leisten wollen, noch wollen wir alle die, durch eine notwendige Anpassung an den höheren Arbeitsanfall bedingten, steigenden Kosten durch höhere Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung auffangen. Die jedoch dahinterstehende Idee, wir belassen alles im Status quo und versuchen die drohende Überlastung durch Maßnahmen außerhalb des Gesundheitssystems abzuwehren, kann nur eine aktuell notwendige kurzfristige und keine langfristige Lösung sein. Von daher ist der sukzessive Abbau der getroffenen Maßnahmen außerhalb des Gesundheitssystems mit dem erkennbaren Rückgang der Belastung durch die Pandemie verpflichtend und gleichzeitig muss die Politik drei wesentlichen Aufgaben hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Systems angehen, um bei zukünftigen belastenden Ereignissen (und ich bin mir sicher, wir werden solche Situationen jetzt häufiger erleben) nicht wieder vor dem Problem zu stehen, dass nur mit außerhalb des Systems liegenden Maßnahmen das System selbst aufrechterhalten werden kann. Als die drei wesentlichen Aufgaben sehe ich dabei:

  1. die klare Definition, was die Regulären- und was Reservekapazitäten sein sollen, die Bereithaltung, Schaffung und Einsatzbereitschaft (inklusiver einer klaren Datenlage). Hierbei geht es um die rein materielle Definition der gewünschten Leistungsfähigkeit im Normalbetrieb sowie die Aufwuchsfähigkeit.
  2. Sicherstellung der personellen Besetzung der Kapazitäten. Hierbei sind vor allem Lösungen gefragt, die zum einen die Berufswahl attraktiv macht und zum anderen sicherstellt, dass das vorhandene Personal nicht „verbrannt“ wird.
  3. Klärung, wie die notwendigen Maßnahmen finanziert werden können und wie ein langfristiges solides Finanzierungskonzept aussehen soll. Hier greift dann unter anderem das Stichwort Bürgerversicherung.

Da der Anpassungsprozess im Gesundheitswesen nicht von heute auf morgen passieren wird, werden wir sicherlich noch einige Zeit damit leben müssen, dass Schutzmaßnahmen für das Gesundheitssystem vor allem außerhalb desselben ergriffen werden. Dies wird auch bei zukünftigen Pandemie-Ereignissen notwendig sein, da zwischen dem massiven Auftreten eines Krankheitserregers und der Bereitstellung einer medizinischen Prävention einer Erkrankung bzw. einer erfolgreichen Behandlungsmethode einige Zeit vergehen wird. Gerade die Corona-Pandemie hat aber gezeigt, dass die Forschung in der Lage ist, schnell zu reagieren. Im Nachgang zur Pandemie sollte daher eine Aufarbeitung im Sinne eines „Lessons learned“ erfolgen, welche Maßnahmen wie gut gegriffen haben, wie sie akzeptiert wurden, welche Fehler gemacht, aber auch welche Erfolge erzielt wurden. Diese Erfahrungen müssen dann notwendigerweise sowohl in die Beurteilung der obigen Punkte a) und b) einfließen, es ist darüber hinaus auch notwendig, dass hieraus eine Ableitung für einen Katastrophenplan erstellt werden muss (der dann nicht wieder in Vergessenheit geraten darf).

Kommen wir zu dem Punkt, der sich jetzt sofort angehen lässt: Den Abbau der durch die Angst vor dem Virus aufgebauten Schwelle. Dazu müssen wir uns zunächst einmal ansehen, wodurch wurde und wird immer noch die Angstschwelle aufgebaut. Für mich liegt das vor allem an der Kommunikation. Daran, dass wir seit zwei Jahren auf die Inzidenzwerte und Todeszahlen schauen, ohne sie in eine Relation zu setzen. Daran, dass wir uns gar nicht ansehen, ob die Zahlen die Gefahr untermauern oder zeigen, dass sie geringer wird. Daran, dass uns eigentlich niemand genau erklären kann, welche Zahlen denn jetzt wichtig sind und warum. Daran, dass es selbst nach zwei Jahren Pandemie nicht gelingt, Regeln, die einzuhalten sind, frühzeitig und klar zu kommunizieren. Genau dies erleichtert aber den Aufwuchs der Angstschwelle.

Zuallererst ist zunächst einmal festzustellen, dass wir die Erfolge der Impfungen klein reden. Trotz dessen, dass die Sieben-Tages-Inzidenz derzeit ungeahnte Höhen erreicht, bewegt sich die Hospitalisierungsrate auf einem stabilen Niveau, das händelbar ist und die Intensiv-Belegung aufgrund einer Corona-Erkrankung ist deutlich zurückgegangen. Dies liegt doch offensichtlich nicht nur daran, dass die Omikron-Variante einen milderen Verlauf hat, sondern vor allem daran, dass die Menschen in Deutschland durch die Impfung vor einem schweren Verlauf besser geschützt sind. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass die Bundesländer, die aktuell eine unterdurchschnittliche Impfquote haben, sowohl in der Hospitalisierungsrate als auch in der Intensivauslastung überdurchschnittliche Werte aufzeigen. Und gerade in den östlichen Bundesländern ist Omikron noch gar nicht voll angekommen. Auch dass die Letalität, also die Gefahr an oder mit dem Virus zu sterben sinkt, ist vor allem ein Erfolg der Impfung. Wichtig dabei ist, sich immer vor Augen zu halten, dass Menschen sterben, dass der Tod nun einmal zum Leben dazugehört. Und je älter sie sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sterben. Natürlich ist jeder Tod schlimm, vor allem für die Menschen, die dem Toten nahestehen. Aber nachdem wir ohne die Impfung deutlich erkennbare „Übersterblichkeiten“ hatten, haben wir durch unsere Maßnahmen und die Impfung die Letalitätsrate wieder auf das „normale“ Maß zurückgefahren. Es sterben also zurzeit nicht mehr Menschen als im Schnitt der letzten Jahre.

Daneben schauen wir auch immer noch zu sehr auf den Sieben-Tages-Index. Das war richtig, so lange wie die Logik „Erkrankung – Hospitalisierung – Intensivstation – Tod“ von uns nicht oder nur wenig beeinflussbar war. So konnten wir nur am Beginn dieser Logik eingreifen und versuchen, uns so weit wie möglich vor einer Erkrankung schützen. Mittlerweile ist es jedoch so, dass wir uns mit der Impfung vor den Übergängen zwischen Erkrankung und Hospitalisierung bzw. von Hospitalisierung zu Intensivstation schützen können und es zudem auch entsprechende Medikamente gibt, die diese Risiken ebenfalls reduzieren. Da diese Logik nun aber nicht mehr greift, macht auch der Blick auf Inzidenzzahlen keinen Sinn mehr. Sie geben uns schlicht keine Informationen mehr, wie wir uns verhalten bzw. was wir unternehmen müssen. Sie schüren aber weiterhin Angst, denn in unseren Gedanken haben wir noch nicht verarbeitet, dass wie die Logik, wie sie zu Beginn der Pandemie hatten, schon längst durchbrochen haben. Dabei sollte uns doch allen klar sein, dass wir, würden noch die alten Voraussetzungen gelten, bei Sieben-Tages-Inzidenzen von jenseits der 1000 schon längst wieder in einem Lockdown wären.

Es führt noch ein weiterer Faktor dazu, dass wir noch nicht angefangen haben, mit dem Risiko der Corona-Erkrankung „normal“ umzugehen. Dieser Faktor ist das Long Covid, also die Spätfolgen einer Erkrankung. Long Covid ist eine ernste Sache, denn es beeinträchtigt unser Leben auch weit über die Erkrankung hinaus. Aber, da es sich bei Corona um eine neuartige Viruserkrankung handelt, haben wir keine öffentlich vorhandenen Informationen, wie häufig Long Covid nach einer Erkrankung auftritt. Tritt es einmal, zehnmal oder hundertmal je hunderttausend Corona-Infektionen auf? Welche Gruppen sind davon betroffen? Natürlich ist jedes Einzelschicksal schlimm, aber so lange mir niemand eine signifikante Wahrscheinlichkeit nennen kann, dass mich dies bei einer Infektion mit dem Virus erwischen wird, muss ich damit leben, genau wie mit dem Risiko, überfahren zu werden oder an Krebs zu erkranken.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Mit der Impfung und der Entwicklung von Medikamenten haben wir die ursprüngliche Logik durchbrochen. Genau wie bei anderen Erkrankungen werden wir nicht verhindern können, dass es Menschen gibt, die an Corona sterben werden, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch für die meisten Altersgruppen sehr gering. Warum also noch Angst? Sollten wir nicht besser raus aus der Angst und wieder leben?